79
Keine Ausbildung, keine Vision kann uns die geheimen Fähigkeiten zeigen, die in uns schlummern. Wir können nur beten, das diese besonderen Gaben verfügbar sind, wenn wir sie am dringendsten benötigen.
Akoluthen-Handbuch der Bene Gesserit
Tod.
Paul streifte den Rand einer inneren Dunkelheit, tauchte kurz in die Unendlichkeit ab und kehrte zurück. Er schwebte am Gleichgewichtspunkt seiner Sterblichkeit. Die Messerwunde war tief.
Ohne ein Bewusstsein von dem, was um ihn herum vor sich ging, empfand er eine intensive Kälte, die sich von seinen Fingerspitzen bis zum Hinterkopf ausbreitete. Wie ein fernes Flüstern hörte er immer noch das Brodeln des Lavaspringbrunnens in seiner Nähe. Trotz des harten Steinbodens unter ihm fühlte es sich an, als würde er schweben und kurz davor stehen, ins Universum zu zerfließen.
Auf seiner Haut war die Wahrnehmung einer warmen, zähflüssigen Feuchtigkeit. Kein Wasser. Blut ... sein Blut ... das sich in einer großen Lache auf dem Boden ausbreitete. Es erfüllte seine Brust, seinen Mund und die Lungen. Er konnte kaum noch atmen. Mit jedem schwachen Herzschlag verlor er mehr davon ...
Es kam ihm vor, als könnte er immer noch die lange Klinge des Dolchs in sich spüren. Nun erinnerte er sich ... in den letzten verzweifelten Tagen von Muad'dibs Djihad hatte der hinterhältige Graf Fenring ihn erstochen. Oder war das zu einem ganz anderen Zeitpunkt geschehen? Ja, er hatte den Stahl einer Messerklinge schon einmal geschmeckt.
Vielleicht war er auch der alte blinde Prediger in den staubigen Straßen von Arrakeen, auf den man ebenfalls mit einem Messer eingestochen hatte. So viele Tode für nur einen Menschen ...
Er konnte nichts mehr sehen. Jemand drückte seine Hand, obwohl er sie kaum spürte, und er hörte die Stimme einer jungen Frau. »Usul, ich bin bei dir.« Chani. An sie erinnerte er sich am besten, und er war froh, dass sie bei ihm war. »Ich bin hier«, sagte sie. »Ganz und gar, mit all meinen Erinnerungen, Geliebter. Bitte komm zurück.«
Nun zerrte eine festere Stimme an seiner Aufmerksamkeit, als hätte sie direkten Zugriff auf seinen Geist. »Paul, du musst mir zuhören. Erinnere dich, was du von mir gelernt hast.« Die Stimme seiner Mutter. Jessica ... »Erinnere dich, was die ursprüngliche Lady Jessica dem ursprünglichen Paul Muad'dib beigebracht hat. Ich weiß, wer du bist. Du hast die Macht in dir. Deswegen bist du noch nicht tot.«
Er fand Worte in seiner Kehle, die durch das Blut nach oben blubberten. Er wunderte sich über den Klang seiner eigenen Stimme. »Nicht möglich ... ich bin nicht ... der Kwisatz Haderach, der finale ...« Er war nicht das Superwesen, das das Universum verändern würde.
Pauls Lider öffneten sich zitternd, und er sah sich in der großen Maschinenkathedrale liegen. Dieser Teil seines visionären Traumes war Wirklichkeit geworden. Er hatte gesehen, wie Paolo triumphierend lachte und das Gewürz verschlang – doch nun lag Paolo wie eine umgestürzte Statue am Boden, erstarrt und bewusstlos, in die Unendlichkeit starrend. Der Baron lag ein Stück weiter, ermordet, mit dem Ausdruck der Verärgerung und Ungläubigkeit auf dem Gesicht. Also war die Vision wahr, nur dass ihm noch nicht alle Einzelheiten zugänglich gewesen waren.
Er spürte eine Unruhe, die aus der Richtung von Omnius und Erasmus kam. Paul richtete den trüben Blick dorthin. Wächteraugen schwirrten herein und zeigten Bilder. Der alte Mann stand mit ungeduldigem Gesichtsausdruck da. Der Gestaltwandler Khrone wirkte beunruhigt. Paul konnte laute Stimmen hören. Die gesamte Kakophonie wand sich in merkwürdig unverständlichen Fetzen durch die flirrenden Bilder in seinem Kopf.
»Die Sandwürmer wüten wie Dämonen ... zerstören Gebäude.«
»... eine Armee stürmt aus dem Nicht-Schiff ... ein Giftgas, dessen tödliche Wirkung nur ...«
Der alte Mann sagte trocken: »Ich habe Kampfroboter und Gestaltwandler gegen sie in Marsch gesetzt, aber vielleicht genügt das noch nicht. Die Sandwürmer und die Menschen richten beträchtliche Schäden an.«
Erasmus meldete sich zu Wort. »Ruf mehr Gestaltwandler zusammen, Khrone. Du hast noch nicht alle in den Kampf geschickt.«
»Das wäre reiner Selbstmord für meine Leute. Wenn wir gegen die Menschen kämpfen, werden wir von diesem Gas getötet. Wenn wir gegen die Sandwürmer antreten, werden wir von ihnen zermalmt.«
»Dann werdet ihr eben vergiftet oder zermalmt«, sagte Erasmus leichthin. »Kein Grund zur Sorge. Wir können jederzeit mehr von euch erschaffen.«
Die Züge des Gestaltwandlers veränderten sich und wurden verschwommen, als würde ein Sturm über sein puttenhaftes Gesicht hinwegziehen. Er drehte sich um und marschierte aus dem Kuppelsaal.
Unterdessen hob Yueh Pauls Kopf an und versorgte ihn mit der medizinischen Kunst der Suk-Schule. Paul jedoch schloss die Augen wieder und glitt zurück in den Schmerz. Erneut tanzte er am schmalen Abgrund entlang, der sich immer breiter und tiefer vor ihm öffnete.
»Paul!« Jessicas Stimme klang eindringlich. »Erinnere dich, was ich dir über die Schwesternschaft gesagt habe. Es mag sein, dass du nicht der endgültige Kwisatz Haderach bist, den die Denkmaschinen in ihre Gewalt bekommen wollen, aber du bist in jedem Fall ein Kwisatz Haderach. Das weißt du, und auch dein Körper weiß es. Einige deiner Fähigkeiten sind die gleichen wie die einer Ehrwürdigen Mutter. Einer Ehrwürdigen Mutter, Paul!«
Aber es war zu schwer für ihn, sich auf ihre Worte zu konzentrieren oder sich zu erinnern ... Während er immer tiefer in die Bewusstlosigkeit hinabstürzte, verhallte ihre Stimme, bis er seinen eigenen Herzschlag nicht mehr hören oder spüren konnte. Was hatte seine Mutter gemeint?
Wenn sich Jessica wieder an ihr vergangenes Leben erinnerte, wusste sie auch um die Gewürzagonie. Jede Ehrwürdige Mutter hatte die Fähigkeit, ihre Biochemie zu verändern, die Moleküle in ihrem Blutkreislauf zu manipulieren und zu modifizieren. Auf diese Weise entschied sie, ob sie schwanger wurde, und verwandelte das giftige Wasser des Lebens. Deshalb hatten die Geehrten Matres so verzweifelt nach Ordensburg gesucht – weil nur die Ehrwürdigen Mütter körperlich in der Lage waren, die schrecklichen Seuchen der Maschinen zu neutralisieren.
Warum wollte seine Mutter ihn daran erinnern?
In der Dunkelheit gefangen spürte Paul die Leere seines Körpers. Er war völlig ausgeblutet. Stumm.
Vor langer Zeit hatte er auf Arrakis seine eigene Version der Gewürzagonie erlebt, als erster Mann, der sie erfolgreich überstanden hatte. Wochenlang hatte er im Koma gelegen, als die Fremen ihn bereits für tot erklärt hatten und nur Jessica darauf bestanden hatte, ihn am Leben zu erhalten. Er hatte den stygischen Ort gesehen, zu dem keine Frau gelangen konnte, und er hatte daraus Kraft gewonnen.
Ja, Paul hatte auch jetzt diese Fähigkeit in sich. Er war ein männlicher Bene Gesserit. Er hatte immer noch die Kontrolle über seinen Körper, jede einzelne Zelle, jede Muskelfaser. Endlich erkannte er, was seine Mutter ihm hatte sagen wollen.
Die Lebenskrise und die Todesschmerzen gaben ihm den Hebel, den er brauchte. Er stützte sich auf die Schmerzen und benutzte sie als Angelpunkt, um sein Leben zu öffnen, seine erste Existenz – die Erinnerungen von Paul Atreides, von Muad'dib, anfangs als Imperator und später als Prediger. Er folgte diesem Strom zurück bis in seine Kindheit und die frühen Trainingsstunden mit Duncan Idaho auf Caladan – und wie er beinahe als Bauernopfer im Krieg der Assassinen, in den sein Vater hineingezogen worden war, das Leben verloren hatte.
Er erinnerte sich an die Ankunft seiner Familie auf Arrakis, einem Ort, von dem Herzog Leto gewusst hatte, dass er eine Falle der Harkonnens war. Die Erinnerungen strömten an Paul vorbei: die Vernichtung von Arrakeen, seine Flucht in die Wüste gemeinsam mit seiner Mutter, der Tod des ersten Duncan Idaho ... die Begegnung mit den Fremen, sein Messerkampf mit Jamis, der erste Mensch, den er je getötet hatte ... sein erster Wurmritt, der Aufbau der Fedaykin-Truppe, die Angriffe auf die Harkonnens.
Seine Vergangenheit beschleunigte sich, als sie durch seinen Geist floss – der Sturz Shaddams und seines Imperiums, der Beginn seines eigenen Djihads, die Bemühung um Stabilität für die Menschheit, ohne auf den dunklen Pfad zu geraten. Aber er hatte es nicht geschafft, sich vor politischen Machtkämpfen zu schützen, vor Mordversuchen, vor den Machtansprüchen des Imperators Shaddam im Exil, vor der betrügerischen Tochter von Feyd-Rautha und Lady Fenring ... und dann hatte Graf Fenring selbst versucht, Paul zu töten ...
Sein Körper fühlte sich nicht mehr leer an, sondern voller Erfahrung und großem Wissen, voller Fähigkeiten. Er erinnerte sich an seine Liebe zu Chani und seine Scheinehe mit Prinzessin Irulan, außerdem an den ersten Duncan-Ghola namens Hayt und wie Chani während der Geburt ihrer Zwillinge Leto II. und Ghanima gestorben war. Selbst jetzt kam ihm der Schmerz über den Verlust Chanis viel größer als sein gegenwärtiger eigener Schmerz vor. Wenn er heute in ihren Armen starb, würde er ihr die gleichen Qualen bereiten.
Er erinnerte sich, wie er in die Wüste gezogen war, von seinen Visionen geblendet ... und wie er überlebt hatte. Wie er zum Prediger geworden war. Wie er in einer staubigen Straße gestorben war, vom Mob umringt.
Nun war er alles, was er jemals gewesen war: Paul Atreides und all die verschiedenen Rollen, die er angenommen hatte, jede legendäre Maske, jede Macht und Schwäche. Doch das Wichtigste war, dass er nun über die Fähigkeiten einer Ehrwürdigen Mutter verfügte, die praktisch uneingeschränkte Kontrolle über den Körper. Wie eine Leuchtboje in der Nacht hatte seine Mutter ihm den Weg gezeigt.
Zwischen seinen letzten Herzschlägen suchte er in den dunkelsten Tiefen seines Innern. Er fand die Messerwunde in seinem Herzen, sah die tödliche Verletzung und stellte fest, dass sein Körper nicht in der Lage war, die Schäden aus eigener Kraft zu beheben. Er musste den Heilungsprozess lenken.
Obwohl er dem Tod immer näher zu kommen schien, sammelte er sich nun und wurde zu einem Teil seines eigenen Herzens, das nicht mehr schlug. Er sah, wo Paolos Klinge die rechte Herzkammer aufgeschlitzt hatte, sodass das Blut ungehindert hinausfließen konnte. Seine Aorta war angeritzt, aber es war ohnehin kein Blut mehr da, das sie hätte weiterleiten können.
Paul führte die Zellen zusammen und versiegelte den Schnitt. Dann zog er Tropfen für Tropfen sein Blut aus den Körperhöhlen, in das es sich ergossen hatte, und führte es wieder dem Blutkreislauf zu. Er zwang buchstäblich das Leben in seinen Organismus zurück.
* * *
Paul wusste nicht, wie lange seine Trance angehalten hatte. Sie kam ihm so ewig wie das Todeskoma vor, das schon durch die bloße Berührung der Zunge mit einem einzigen Tropfen vom giftigen Wasser des Lebens ausgelöst wurde. Plötzlich wurde er sich wieder Chanis Griff bewusst. Ihre Hand fühlte sich warm an, und er spürte wieder sein eigenes Gewebe, das nicht mehr kalt war und zitterte.
»Usul!« Er hörte Chanis leises Flüstern und bemerkte die Ungläubigkeit in ihrem Tonfall. »Jessica, etwas hat sich verändert!«
»Er tut nur, was er tun muss.«
Als er schließlich genügend Kraft gesammelt hatte, um flatternd die Augenlider zu öffnen, kehrte Paul Muad'dib in das Reich der Lebenden zurück, mit seinem alten und seinem neuen Leben. Und er hatte nicht nur diese Erinnerungen und Fähigkeiten, sondern außerdem eine phantastische, noch viel großartigere Offenbarung ...
Genau in diesem Moment stürmte Duncan Idaho mit gerötetem Gesicht und blutiger Kleidung in die große Kathedralenhalle. Die Wachroboter stieß er einfach zur Seite. Erasmus gab mit einer lässigen Geste zu verstehen, dass der Mann durchgelassen werden sollte. Duncans Augen weiteten sich, als er sah, wie der blutüberströmte Paul von seiner Mutter und Chani aufgerichtet wurde. Dr. Yueh wirkte erstaunt über das Wunder, das vor seinen Augen geschehen war. Duncan lief zu ihnen.
Paul versuchte, seine Gedanken zu sammeln und die Szene, die er erblickte, mit seinem inneren Wissen in Zusammenhang zu bringen. Er hatte viel gelernt, nachdem er zum ersten Mal gestorben und als Ghola zurückgekehrt war und nun fast erneut gestorben wäre. Er hatte schon immer die phänomenale Begabung gehabt, die Zukunft zu schauen. Nun wusste er sogar noch viel mehr.
Obwohl er auf wundersame Weise überlebt hatte und wiedergeboren worden war, war er dennoch nicht der perfekte Kwisatz Haderach. Und ganz offensichtlich war es auch nicht Paolo. Als sich Pauls Bewusstsein klärte, konzentrierte er sich auf eine Erkenntnis, die bislang allen anderen entgangen war – sowohl Omnius als auch Erasmus, Sheeana und den anderen Gholas.
»Duncan«, sagte er mit heiserer Stimme. »Duncan, du bist es!«
Nach kurzem Zögern kam sein alter Freund näher, der loyale Kämpfer für die Atreides, der die Wiederauferstehung als Ghola viel häufiger erlebt hatte als jeder andere Mensch.
»Du bist es, nach dem sie gesucht haben, Duncan. Du bist es.«